In meiner Arbeit und in meinem Alltag habe ich festgestellt, dass Anwesenheit eine der natürlichsten und schönsten menschlichen Qualitäten ist, die sich ganz leicht und unkompliziert ins Leben integrieren lässt. Bin ich anwesender, dann fühlt sich mein Alltag gleich besser an. Aus einer Kette von Terminen, Ereignissen und Erledigungen wird ein immer wiederkehrendes Ankommen in dem, was eben gerade ist. Das, was gerade ist, ist mein Leben. In meiner Anwesenheit werde ich weiter. Selbst ein grauer Regentag kann meine Stimmung dann nicht drücken. In diesem Zustand kann ich auch mal zu lange zu leicht bekleidet in der Kälte stehen und bekomme einfach keinen Schnupfen. Ich fühle mich kreativer und offener. Anwesenheit dient mir als Energiequelle. Und durch sie kann auf leichte Weise die Spannung zwischen innerer und äußerer Realität aufgelöst werden, was eine der häufigsten Ursachen für Stress ist.
anwesend sein ist einfach
Wenn Sie jetzt mit dem Lesen aufhören, kurz mit dem Blick den Raum erfassen, in dem sie sich gerade aufhalten, dabei tief durchatmen und ganz bewusst diesen Moment erleben, dann fühlen sie ihre Präsenz, ihre Anwesenheit. Um präsenter zu sein, brauchen wir nichts weiter tun, keine Meditation, keine Therapie und keine Ausbildung. Anwesend sein ist leicht und mühelos. Sicherlich kommen im nächsten Augenblick genauso selbstverständlich wieder all unsere Gedanken, Gefühle, Impulse und unsere volle Anwesenheit ist wieder verschwunden. Doch das ist ganz normal, was aber nicht so sein muss. Wir können unsere Anwesenheit auch mit durch den Alltag nehmen, dazu reicht es, wenn wir zwischendurch immer mal wieder an sie denken.
Wenn wir uns angewöhnt haben, unsere Präsenz zu halten, dann kann eine Atmosphäre entstehen, die sich anfühlt, wie das Öffnen aller Fenster und Türen an einem warmen Frühlingstag oder wie, wenn man nach einer Urlaubsreise nach Hause kommt und alles viel bewusster und neu wahrnimmt. Wir erleben uns mehr in Einheit mit allem und viel lebendiger als vorher.
ein Dasein ohne Anwesenheit
Ein Leben ohne Präsenz ist möglich. Es läuft alles weiter, denn menschliches Dasein existiert auch ohne Anwesenheit. Unser Dasein kann mit einer ganz einfachen Formel beschrieben werden: In uns wohnen zwei Bewusstseinsformen, die in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen. Die eine Form ist unser Geist, unser Denken, unsere Überlegungen, unsere Betrachtungen, Beurteilungen, Vorstellungen und Phantasien. Die andere Bewusstseinsform ist unser Gefühl. Hier finden wir alles Erlebte, unsere Erfahrungen, unser Gewissen, Instinkte und Muster sowie unsere Angewohnheiten, Vorlieben und die persönliche Ausstrahlung. Diese beiden Bewusstseinsformen Geist und Gefühl kann man sich unabhängig voneinander vorstellen. Unser Geist wirkt nun unentwegt auf unsere Gefühlswelt ein und das Gefühl beeinflusst permanent unseren Geist. Durch dieses aufeinander Einwirken entsteht unser ganz persönliches Dasein. Wie ein komplexes inneres Programm läuft es in uns wie am Schnürchen.
Jeder Mensch hat sein ganz persönliches Dasein, seine ganz persönliche Art, das Leben zu erleben und auf das Leben zu reagieren. Über viele Jahre haben wir unser Dasein entwickelt und sind damit identifiziert. Egal, ob wir unser Dasein als belastend oder schön oder als ‚mal so mal so‘ empfinden, es ist eine in sich perfekt funktionierende Einheit.
Innerhalb unseres Daseins gibt es Bereiche, in denen wir uns sogar bevorzugt aufhalten, einige lieber in den geistigen Bereichen und andere lieber in den Gefühlswelten. Diese Vorlieben wählen wir entsprechend unseres Wesens und unser Prägung. Um uns in unserem Dasein ausreichend zu stabilisieren, entwickeln wir entsprechende Strategien. Diese Strategien brauchen wir, um uns nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich im Gleichgewicht zu halten. Je anwesender wir jedoch sind, desto weniger Stabilisierung brauchen wir, da unsere Präsenz dazu in der Lage ist, uns zu halten, uns zu schützen und uns durchs Leben tragen.
wir sind das Gelbe vom Ei
Unsere Präsenz ist immer um uns herum ist. Es ist so, als wären wir sind das Gelbe vom Ei und unsere Präsenz ist das Eiweiß. Manchmal, wenn wir uns sehr gut fühlen, es einfach wollen oder mal nicht richtig aufpassen, dann sind wir plötzlich präsenter. Unser Dasein und unsere Präsenz existieren friedlich nebeneinander.
In unserem ganz persönlichen Dasein können wir uns zu jeder Zeit neu erfinden, wir können weglassen, was uns belastet und hinzunehmen, was uns gefällt. Wir sind das Gelbe vom Ei. So wie wir Körper, Gefühl oder Verstand sein können, so wie wir Schmerz und Wut, Lust, Lachen, Verunsicherung, Müdigkeit oder auch Ablenkung sein können, so können wir auch Anwesenheit sein. Unsere Präsenz verschwindet nie und demzufolge muss sie auch nicht gesucht werden. Wir leben sie oft einfach nur nicht.
In unserer Präsenz sind wir wie ein unbeschriebenes Blatt, wie ein Frühlingsmorgen, wie ein dauernder Neuanfang, in dem alle Möglichkeiten liegen. Rein, unschuldig, kraftvoll, anwesend und klar. All dies haben wir irgendwann einmal aufgegeben, um etwas anderes zu sein. Wir haben unser persönliches Dasein gewählt und vergessen, dass wir auch Präsenz sind. Unser Dasein ist unsere Identität und unsere Individualität. Wenn wir wählen müssten zwischen Dasein und Präsenz, dann würden wahrscheinlich viele ihr Dasein wählen, einfach deshalb, weil es sie sonst nicht mehr gäbe. Glücklicherweise müssen wir nicht wählen, denn wir können beides sein. Das und das. Geistig/ seelisch und präsent. Mit unserer Präsenz im Koffer kann eine lange Reise zu Ende gehen. Denn ohne Mühe, kommen wir mit einer belebenden Wachheit immer wieder da an, wo das Leben gerade stattfindet.
Wie ist dauernde Anwesenheit möglich?
Wir Menschen können ohne Lust Sex haben, wir können ohne Kraft arbeiten gehen, ohne Liebe und Verbundenheit in Beziehungen sein und wir können ohne je präsent gewesen zu sein, alt werden. Ohne all diese Eigenschaften ist menschliches Dasein möglich und auch in Ordnung, denn jeder Mensch wählt das Dasein, welches für ihn passt.
Das Hinzunehmen unserer Anwesenheit ist etwas sehr Leichtes, wogegen das Integrieren unserer ureigensten Zustände, wie Lust, Kraft, Freude und Liebe schon etwas aufwändiger sein kann. Diese Qualitäten müssen manchmal regelrecht freigelegt werden, bis sie ungestört in uns fließen und zum Einsatz kommen können. Unsere Präsenz dagegen ist frei. Sie ist sofort da, wenn wir es wollen. Bei allem, was wir tun, können wir sofort anwesender sein. Egal, ob wir im Garten sitzen, im Gespräch sind, Staub saugen, über etwas nachdenken oder uns ärgern, wir können es uns zur Angewohnheit machen, während dessen anwesender zu sein. Wir können Anwesenheit in unserm Dasein ganz spielerisch wieder aufnehmen, uns dafür entscheiden und uns dazu bereit erklären, es einfach immer häufiger zu sein. Ein tiefer Atemzug und schon sind wir mehr da als vorher. Es liegt an uns. Wenn wir vorher das Gelbe vom Ei waren, dann werden wir durch Präsenz vielleicht zu einem sehr interessanten Rührei. Unsere Daseinsgrenzen weiten sich auf natürliche und sichere Weise. Wir können dadurch ausgeglichener und gelassener werden. Unsere Bestimmtheit und unsere Klarheit, aber auch unsere Intuition und die innere Harmonie werden durch die Anwesenheit im eigenen Leben gestärkt.
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