Ein zentrales Thema in meinem Praxisalltag nenne ich systemischen Belastungen. In der Fachsprache werden diese Belastungen, transgenerative Traumata, genannt. Das sind Gefühle und Ereignisse, die von Eltern und Großeltern nicht verarbeitet wurden und von späteren Generationen innerlich aufgenommen werden. Normalerweise stecken in unserem Inneren unsere eigenen Gefühle und unsere eigenen Persönlichkeitsanteile. Menschen, die Traumata aus der Eltern- oder Großelterngeneration in sich tragen, haben zusätzlich mit einer Flut von Gefühlen und Ereignissen zu tun, die nicht ihre eigenen sind. Wir Kinder und Enkelkinder können die fremden Gefühle jedoch nicht verarbeiten. Sie versuchen es zwar oft, doch das ist nicht möglich, denn nur persönliche Gefühle können verarbeitet und gelöst werden. Die Ursache dafür liegt in der Natur der fremden introjezierten (in sich hineingenommen) Gefühle. Fremde Gefühle „verhalten“ sich anders, als persönliche Gefühle.
Wie eine große schwere Waberwolke sind sie um uns herum, manchmal auch in uns drin, schwer, belastend, kaum greifbar, Angst auslösend, depressiv machend, Energie raubend oder sie fühlen sich wie ein dunkler Abgrund an, über dem wir pausenlos hängen …
In der Regel werden die systemischen Belastungen unbewusst aufgenommen, oft sogar schon in frühster Kindheit. Für Menschen, die systemische Belastungen in sich tragen, fühlt sich das meistens ganz normal und gewohnt an, so dass sie es lange Zeit nicht wirklich als Last empfinden. Sie entwickeln ihre Persönlichkeit ausgleichend und kompensierend um eine solche Belastung herum.
Neben den systemischen Belastungen stehen die persönlichen Belastungen. Dies sind Gefühle und Ereignisse, die wir persönlich erlebt haben und unverarbeitet in uns tragen. Beide Formen können unterdrückt und abgespalten sein, was immer einen Versuch darstellt, mit ihnen klar zu kommen. Wenn wir etwas abspalten oder verdrängen, dann hat dies jedoch einen permanenten Einfluss auf unser Erleben, auf unser Verhalten, auf unsere Grfühlswelt und auf unseren Körper. Erst durch das Fühlen alter Gefühle und durch das Erkennen unbewusster Muster, können sie sich verwandeln und uns als Kraft und Lebensqualität zur Verfügung stehen.
Viele Menschen stellen sich ihren Gefühlen, ihrem Unterbewusstsein und ihren Belastungen. Sie weiten ihr Bewusstsein für ihr Leben, sensibilisieren sich für ihr Innerstes und stellen sich den Schatten ihrer Vergangenheit. Manchmal kommen sie an einen Punkt, den sie einfach nicht gelöst bekommen oder sie haben das Gefühl, trotz innerer Arbeit und Reflexionen, sich im Kreis zu drehen oder nicht vom Fleck zu kommen. Das ist oft ein Zeichen dafür, dass Traumata einer oder zwei Generationen vor ihnen im Spiel sind, die entweder geschützt werden oder als das Eigene erlebt werden.
In der Praxis nehme ich diese Traumata durch die stellvertretende Wahrnehmung als Gefühle wahr, die groß und unpersönlich sind. Sie füllen den ganzen inneren Raum aus oder schwappen als große Gefühlswelle von außen in mich hinein. Lasse ich sie mehr und mehr zu, dann fühlen sie sich endlos und übermächtig an. Sie erzeugen entweder eine starke innere Schwere, die oft von den Menschen im Alltag als Depression wahrgenommen wird oder sie sind konkreter und man hat das Gefühl, irgendwie verrückt zu sein, da seelische Schmerzen, traumatische Erlebnisse, Sterbenwollen, Schocks, Schreie und Ängste in einem sind und dort als das Eigene gefühlt werden, wobei jedoch kein realer Bezug zu einem Ereignis hergestellt werden kann. Unverarbeitete übernommene Trauer kann sich zum Beispiel so zeigen, dass der Mensch zwar viel weint, jedoch keine Erleichterung erfährt und immer wieder rutscht neue Traurigkeit nach, die immer größer wird und kein Ende zu haben scheint.
Persönliche Gefühle haben einen Anfang und ein Ende. Wenn wir trauern, dann bringt uns das Erleichterung und wir fühlen am Ende Liebe und Frieden. Schmerzhafte Gefühle, Scham, Schuld und Wut fühlen sich, wenn es die eigenen Gefühle sind, persönlich an und wir können sie bestimmten Erlebnissen oder Ereignissen zuordnen.
Um ein inneres Gleichgewicht zu erschaffen, bildet unsere Persönlichkeit verschiedene ausgleichende Strategien um die inneren Belastungen herum. Die Strategie, die mir am häufigsten begegnet, ist innere Unruhe. Sie treibt den Menschen permanent zu Aktivitäten, zu irgendwelchen Handlungen und zu andauerndem Beschäftigtsein. Andere Strategien sind: Stress nicht verhindern können, Vermeidungen aller Art, Ängste, nicht in Kontakt gehen wollen (Angst vor Trigger), schnell wütend werden, sich immer streiten müssen.
Traumata aus anderen Generationen werden immer stärker als die persönlichen Gefühle empfunden. Daher ist es wichtig, sie zu erkennen, wenn man sich persönlich entfalten oder verändern möchte. Persönliche Veränderungen können ansonsten nicht lange gehalten werden und schnappen schnell in alte Bahen und Muster zurück.
Traumata von unseren Eltern und Großeltern können von uns nicht gelöst werden. Sie müssen dort hin entlassen werden, wo sie hingehören. Wenn wir fremde Gefühle und Ereignisse in uns aufgenommen haben, dann gibt es in uns eine Tür, die dafür offen steht. Oft ist es die Liebe und Verbundenheit zu einem Elternteil, die sich darin äußern kann, dass wir demjenigen Last abnehmen wollen, helfen wollen, retten wollen, jemanden im Leben halten wollen oder uns verantwortlich fühlen, die Familie in Ordnung zu bringen. In den Meisten Fällen ist es jedoch der tiefe Wunsch nach Nähe und Intimität zu unseren Eltern, durch den wir uns an ihr Schicksal klammern, weil wir ihnen sonst nicht nah sein könnten. Traumatisierte Menschen halten ihre Mitmenschen innerlich immer auf Abstand, um sich selbst vor den Gefühlen ihres Traumas zu schützen.
Erst wenn systemische Belastungen in uns keinen Platz mehr finden, kann unsere Persönlichkeit aufhören, etwas ausgleichen zu müssen und ist in der Lage, sich auf natürliche Weise zu entfalten.
Über den Autor