Lenken wir unsere Aufmerksamkeit überwiegend in unser äußeres Leben, dann kann es passieren, dass wir den Kontakt zu uns verlieren. Haben wir die Verbindung zu uns verloren, dann leiden wir, nehmen eine Opferhaltung ein, fühlen uns zunehmend gestresst, überfordern uns, werden müde und depressiv oder reduzieren unser Leben auf ein erträgliches Minimum. Dann kann es uns schwer fallen, Entscheidungen zu treffen, gesund zu bleiben oder innere Stärken zu leben.
Oft kommen Menschen nur durch eine große Not, Krisen oder durch Krankheit wieder in Kontakt mit ihrem Inneren. Eine andere Möglichkeit kann es sein, sich im Alltag freiwillig, immer mal wieder nach innen zu wenden.
Die Türen zur Innenwelt stehen immer offen
Sich seinem Innenleben zuzuwenden, ist im Grunde nicht schwer, denn es gibt keine Hürde, keine Sperre oder irgendein anderes Hindernis auf dem Weg nach Innen. Nur unsere eigene Vermeidung kann uns am Kontakt mit uns selbst hindern.
Der Weg nach Innen ist leicht. Wir lassen erst einmal alle äußeren Aktivitäten sein, suchen einen ungestörten Ort und kommen zu uns. Wir schließen unsere Augen, atmen tief durch und nehmen uns wahr. Wir spüren unsere Körperempfindungen, die unterschiedlichen Gefühle und können nachschauen, was in unserem Kopf so vor sich geht. Entspannen oder lassen uns tief in unseren Körper hinein sinken. Vielleicht nimmt uns jemand mit auf eine innere Seelenbilderreise. Wir können Musik auf uns wirken lassen, visualisieren Farben oder Situationen, lauschen der Stille oder sitzen einfach mit offenen Augen ruhig und aufmerksam da. Vielleicht stellt uns jemand eine Frage, berührt unseren Körper oder wir machen bewusste Körper- und Atemübungen.
All das kann uns helfen, zurück in unser innerstes Seelenleben zu finden. Entweder ganz für uns allein oder zusammen mit der stärkenden und unterstützenden Hilfe anderer Menschen. Intensivere Phasen der Einkehr über mehrere Tage oder in einer Gruppe können sehr hilfreich sein, offen zu bleiben, unsere Wahrnehmung zu schulen und uns in unseren geistig-seelischen Bereichen mehr und mehr zu Hause zu fühlen.
Beängstigend – der Schatten
Der unbewusste Teil unseres Inneren lebt ein zurückgezogenes Schattendasein. Schatten entsteht dort, wo wir den Kontakt zu uns verloren haben. Diesem zu begegnen, kann große Widerstände in uns auslösen. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nach Innen, stoßen wir vielleicht sofort auf Unruhe, diese kann zu unserem Selbstschutz gehören, aber auch auf ein Unvermögen innerer Verarbeitung und auf inneres Leid hinweisen. Wir treffen vielleicht auf viele widersprüchliche innere Anteile. Das können kindliche, trotzige, verurteilende, angriffslustige, zornige oder überhöhte Anteile sein, die alle etwas anderes wollen. In unseren geistig-seelischen Bereichen befinden sich auch die Ursachen vieler körperlicher Beschwerden. Und natürlich all die alten Verletzungen, unerfüllte Sehnsüchte oder längst vergessene Gefühle, wie Schuldgefühle, Verlorensein, Wertlosigkeit, Unverbundenheit, Traurigkeit oder Einsamkeit.
Wir können auch an gewaltige Blockaden stoßen, dort, wo wir große seelische Erschütterungen erlebt haben oder mit denen aus unserer Familie verbunden sind. Es gibt auch Menschen, die innerlich nur Leere wahrnehmen. Leere kann ein Schutz, Selbstverlust oder ein Schock sein und auf emotionale Vernachlässigung hinweisen. Alle Wesenszügen die wir wahrnehmen, ob positive oder negative, brauchen unsere uneingeschränkte Offenheit. Nur so sind wir in der Lage, sie zu integrieren, dann können sie heilen und wir uns freier entfalten.
Beeindruckend – die Sonnenseite
Unser Innenleben hat auch noch eine ganz andere Seite. Wir können viele Fähigkeiten und Begabungen darin entdecken. Vielleicht erleben wir, wie viel Liebe in uns steckt oder dass uns nichts wirklich schockieren kann, weil unsere Seele alt, erfahren und weise ist. Da kann eine große Verantwortungsbereitschaft auftauchen und ein starkes Mitgefühl zu spüren sein. Vielleicht nehmen wir wahr, wie sensibel unser Feingefühl unsere Umgebung abtasten kann, wie kraft- und lustvoll unsere Lebendigkeit ist, wie genau unsere Beobachtungs- und Organisationsgabe ausgeprägt ist, wie intelligent wir Informationen vernetzen können und vielleicht entdecken wir eine zutiefst liebende Verbundenheit mit unseren Mitmenschen. Es kann sich auch ein ausgeprägtes Gespür für Stimmigkeit oder ein intensiver Gerechtigkeitssinn zeigen. Unsere Genussfähigkeit kann von uns gefunden und gelebt werden und unsere Kreativität legen wir ebenfalls durch Selbstbesinnung frei.
Und ganz tief in uns, jenseits vom Denken, Fühlen und jedem körperlichen Ausdruck, existiert unser tiefstes Wesen. Unser Ursprung, die Quelle unseres Daseins und unserer Kraft, reines Bewusstsein, eine intensive uneingeschränkte Energie, die formlos und unvergänglich ist. Da sie das ist, was wir in Wirklichkeit sind, können wir sie nicht verlieren, müssen uns aber auch nicht um sie bemühen. Das Selbst kann sich in dieser Welt nicht manifestieren. Hier, in dieser Welt, wird es immer nur in irgendeiner Form wahrnehmbar sein. In der Form suchen wir oft nach unserem Selbst, doch wir werden es dort nie finden. Im Zustand des Selbstes sind wir das Höchste. Alles ist in uns, doch wir bleiben jenseits davon. Hier endet unsere Reise ins Innere. Das Selbst kann uns berühren, wenn wir bereit sind und dann gehen wir darin vollkommen auf.
Guten Morgen äußere Welt!
Das äußere Leben können wir wie einen Film betrachten, der am Morgen beginnt und am Abend endet. Wenden wir uns diesem Film zu, dann sorgen wir dafür, dass es Frühstück gibt, putzen Zähne, duschen und denken dabei unentwegt vor uns hin, wir hören den Kindern zu, unterhalten uns, arbeiten, gehen einkaufen, halten Haus und Garten sauber, treffen Freunde, machen Sport, fahren von A nach B, wir folgen unseren Ansprüchen und Vorstellungen, funktionieren und erfüllen all die Bedürfnisse und Wünsche, die in uns immer wieder nachwachsen.
Und wenn uns das alles zu viel wird oder wir einfach nur runter kommen wollen, dann zerstreuen wir uns, lenken uns ab, putschen uns auf oder betäuben uns. Wenn unserem Geist-Körper-System unsere Lebensweise zu viel wird, dann versucht es sich durch Krankheit, Zurückgezogenheit, Verdrängung, Ablehnung und Schwere wieder zu stabilisieren. Auf diese Weise entwickeln wir Süchte, Abhängigkeiten und produzieren unbewusst all die inneren und äußeren Zustände, denen wir eigentlich entkommen wollten.
Haben wir Beziehungen, die schwierig und unglücklich verlaufen, dann haben wir nicht gelernt, eine gute tiefe Beziehung zu uns selbst aufzubauen. Automatisch treffen wir dann Menschen, die ebenfalls keine tiefere Bindung zulassen können. Zudem projizieren wir unseren Schatten auf den Gegenüber und bekämpfen oder lehnen ihn im Anderen ab. Oft versuchen wir in unseren Beziehungen etwas zu bekommen, das uns fehlt. Doch dafür sind Beziehungen nicht geeignet. Denn wenn ein Mensch versucht, den Mangel eines anderen zu beseitigen, dann geht er weg von sich oder opfert sich auf. Wenn wir aufgefüllt oder vervollständigt werden wollen, dann hilft nur die Verbundenheit zu uns selbst. Wenn wir andere auffüllen oder vervollständigen wollen, dann ist das ebenfalls ein Zeichen dafür, dass uns die Verbindung zu unserem Inneren abhanden gekommen ist.
Benutzen wir unser äußeres Leben, um unserem Innenleben zu entkommen, dann geht es uns irgendwann schlecht und wir werden krank, weil wir uns immer weiter von unserer Lebenskraft entfernen. Wenden wir uns regelmäßig bewusst unserem Inneren zu, dann werden wir selbstbewusster, konzentrierter, leben gesünder, sind fürsorglicher mit uns und lösen Probleme nachhaltig, und zwar: von innen nach außen. Wenn wir nicht mehr fliehen, ausweichen oder uns fürchten müssen, dann können wir uns als Quelle wunderbarer Kräfte wahrnehmen. Dann sind Beziehungen für uns die Gelegenheit, uns mit uns selbst zu befassen, um Abgetrenntes zu integrieren, etwas zu lernen, zu reifen und den Weg zu unserem Selbst frei zu räumen. Dann dient uns unser äußeres Leben dazu, unsere Fähigkeiten und Begabungen weiterzugeben, wodurch sie immer intensiver werden, uns erfüllen und uns andauernd aufs Neue bei uns ankommen lassen.
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